Angesichts tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen sei in vielen Bereichen eine Neuausrichtung der Bildungspolitik angezeigt, sagten Referentinnen und Referenten auf dem elften Zukunftskongress für Bildung und Betreuung Invest in Future in Stuttgart. Gefordert ist ein System, dass individuelles, selbstbestimmtes Lernen fördert und es Kindern ermöglicht, Zutrauen in ihr Können und ihre Gestaltungsfähigkeit zu entwickeln.
Stuttgart – Während des elften Zukunftskongresses für Bildung und Betreuung Invest in Future in Stuttgart skizierten Fachleute Trends und Perspektiven, die Orientierung für die Weiterentwicklung der Kita- und Schullandschaft in Deutschland bieten können. Zu der zweitägigen Kongress- und Messe-Veranstaltung der Konzept-e für Bildung und Betreuung gGmbH, des KiND e.V. Dachverbands sowie der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart GmbH (WRS) waren rund 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Politik und Wirtschaft, von Kommunen und Trägern sowie aus der pädagogischen Praxis angereist.
„Es geht nicht um Moden, sondern um langfristige Entwicklungen“
„Megatrends entwickeln sich langsam über 30 bis 50 Jahre. Wir sitzen derweil wie die Frösche im Wasserglas und merken nicht, wie sich die Temperatur stetig erhöht“, sagte Volkswirtin Kirsten Brühl vom Zukunftsinstitut des Matthias Horx in ihrem Referat. Es sei wichtig, gesellschaftliche Trends wahrzunehmen und Stellung zu beziehen, betonte auch Trendbeobachter Matthias Haas. Nicht noch eine Stunde operativer Arbeit draufzupacken, sondern innezuhalten und wahrzunehmen, was sich „da draußen“ tut, lautete daher sein Rat.
Arbeitswelt: Strukturen lösen sich auf
Denn unsere Gesellschaft hat sich bereits deutlich gewandelt und tut es weiter: Kirsten Brühl beschrieb Arbeitswelten, die sich in einem permanent unfertigen Zustand befinden. Ziele, Prozesse und Verantwortlichkeiten verändern sich fortlaufend, Strukturen lösen sich auf. Es entwickelt sich eine Ökonomie der Zusammenarbeit, in der Unternehmensgrenzen zunehmend verwischen. Halt und Orientierung gehen dadurch vielfach verloren. „Sicher zu werden im Umgang mit Unsicherheit heißt daher ein Lernziel für die Zukunft“, erklärte die Referentin. Sogenannte Meta-Fähigkeiten sind dafür wichtiger als Wissen. Gefragt sind zum Beispiel: Autonomie, Selbstverantwortung, emotionale Selbststeuerung, Beziehungskompetenz und Kooperationsfähigkeit.
„Möglichkeitssinn“ und „Orientierungswissen“ ausbilden
Gerhard de Haan, Professor für Zukunfts- und Bildungsforschung an der Freien Universität Berlin und Leiter des Institut Futur, plädierte dafür, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, Möglichkeitssinn und Orientierungswissen auszubilden. Dabei geht es um Fantasie, Imagination und Zukunftsideen. „Wissen heißt, etwas in Gang setzen können“, unterstrich der Experte. „Dazu müssen Menschen eine Selbstwirksamkeitserwartung entwickeln, die sie auch dann noch aufrecht erhalten, wenn sie scheitern. Statt „Ich kann das nicht, ich bin unbegabt“ wäre ihre Haltung: „Wenn ich das Thema anders angehe, werde ich es schaffen“.“
Vision: Bildungslandschaften für selbstbestimmtes Lernen
Das Bildungssystem trage derzeit jedoch nachweislich nicht dazu bei, dass Kinder dieses Selbstwirksamkeitsdenken entwickelten. Vor diesem Hintergrund und angesichts der Tatsache, dass bereits heute geschätzte 70 Prozent des Wissens und der Kompetenzen in informellen Zusammenhängen außerhalb der klassischen Bildungsinstitutionen erworben werden, machte sich Professor Gerhard de Haan für sogenannte Bildungslandschaften stark. Darunter versteht der Wissenschaftler ein System, in dem Lehrerinnen und Lehrer zu Lernberaterinnen und -beratern werden, die die Lernenden je nach individuellem Erkenntnisinteresse an die Orte und zu den Menschen schicken, von denen sie das lernen können, was sie wissen möchten. Bildung wird dadurch individueller, selbstbestimmter und bezieht die unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteure aus Wirtschaft und Gesellschaft mit ein.
Durch Partizipation wird Selbstwirksamkeit erfahrbar
Wie innovative Kindertageseinrichtungen heute dazu beitragen, Kindern Selbstwirksamkeitserfahrungen zu ermöglichen, machten die drei Preisträger des KitaStar 2014 deutlich. Der von der element-i-Bildungsstiftung ausgelobte Preis ging an Kitas, die eine beispielgebende Praxis der Kinderbeteiligung etabliert und dafür entsprechende Strukturen wie zum Beispiel Kinderparlamente und Beschwerdeverfahren entwickelt haben. „Ob Kinderpartizipation gelingt, hängt von der Haltung der Erwachsenen ab. Sie müssen bereit sein, Macht zu teilen und Entscheidungen der Kita-Gremien auch dann zu akzeptieren, wenn sie eigenen Vorstellungen zuwider laufen“, betonten die Leiterinnen der während des Kongresses ausgezeichneten Kitas.
Gesellschaftliche Vielfalt in Kitas abbilden
Gesellschaftliche Vielfalt müsse sich stärker als bisher in Kitas abbilden, forderte Waltraud Weegmann, Geschäftsführerin der gastgebenden Konzept-e für Bildung und Betreuung gGmbH: „Kinder verbringen heute sehr viel Zeit in Kindertageseinrichtungen. Dort sollen sie die Welt erfahren und begreifen können. Damit das gelingt, brauchen wir neben erfahrenen Pädagoginnen und Pädagogen auch andere Expertinnen und Experten, die ihr Wissen zum Beispiel aus Naturwissenschaft, Technik, Handwerk oder Kunst in die Kita tragen und Kinder mit der Begeisterung für ihre Themen anstecken. Das würde erheblich dazu beitragen, die Arbeit in Kindertagesstätten qualitativ weiterzuentwickeln. Unter welchen Voraussetzungen diese Kräfte als Kitafachkräfte anerkannt und bezuschusst werden können, müsste dringend geregelt werden.“
Kitas im Wettbewerb: Angebotsprofile schärfen
Kindertagesstätten stehen heute vor der Herausforderung, nicht nur für Erzieherinnen und Erzieher attraktiv zu sein, um deren Gunst sie auf einem in vielen Regionen leergefegten Arbeitsmarkt konkurrieren. Angesichts eines breiter werdenden Betreuungsangebots setzt zunehmend ein Wettbewerb um die Kinder und damit um deren Eltern ein. Einige der Referentinnen und Referenten forderten daher eine bessere Ausrichtung der Einrichtungen am Bedarf der Familien vor Ort und eine Spezialisierung auf bestimmte Angebotsschwerpunkte.
Eltern und Kita-Fachkräfte kommen aus unterschiedlichen „Welten“
Ein interessantes Licht auf die Herausforderungen und Risiken, die eine stärkere Zielgruppenorientierung von Kitas mit sich bringt, warf der Vortrag von Carsten Wippermann, Professor an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München und Leiter des Delta-Instituts. Seit Jahrzehnten erforscht der Soziologe den Wandel in den Lebensstilen und Werten der Menschen und fasst solche mit ähnlicher Haltung und in vergleichbarer sozialer Lage in einer Gruppe, einem sogenannten Milieu, zusammen. Daraus entstand ein Gesellschaftsmodell für Deutschland mit derzeit neun Milieus, die noch einmal in Sub-Milieus aufgeteilt sind. Während viele Eltern mit jungen Kindern dem wachsenden Milieu der „Performer“, einer professionell orientierten Nachwuchselite, sowie der sich ausgegrenzt fühlenden Gruppe der „Benachteiligten“ angehören, kämen Erzieherinnen und Erzieher zumeist aus der „Bürgerlichen Mitte“, gehörten zu den „Jungen Traditionsbewussten“ oder dem Milieu der „Sozial-Ökologischen“. „Da prallen unterschiedliche Welten aufeinander“, erklärte der Referent. „Das erschwert gegenseitiges Verständnis und Kommunikation.“ Vielfältiger zusammengesetzte Kitateams könnten helfen, diese Herausforderung zu meistern.
Zielgruppenausrichtung birgt Risiken
Der Referent sah außerdem eine stärkere Fokussierung der Kitas auf bestimmte Zielgruppen im regionalen Umfeld als sinnvoll an. Die Einrichtungen könnten sich dann besonders an deren Bedarfen ausrichten. Eine solche Ausrichtung berge jedoch auch ein Risiko: „Der bedenkliche Trend zu Kitas, die jeweils fast ausschließlich von einer bestimmten sozialen Gruppe besucht werden, verstärkt sich. Damit verlieren die Einrichtungen ihre Funktion als eine gegenseitiges Verständnis und sozialen Zusammenhalt fördernde Plattformen der Begegnung für Menschen aus unterschiedlichen Milieus.“
Themenfeld: Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Pflege
Insgesamt bot der Kongress rund 60 Vorträge und Workshops, die sich neben strukturellen und pädagogischen Zukunftsfragen der Kinderbetreuung auch dem Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Familie bzw. Pflege widmeten. Die Situation von Berufstätigten, die nahestehende hilfebedürftige Menschen betreuen oder pflegen, sowie die Frage nach möglichen Unterstützungsleistungen von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern tritt dabei immer stärker in den Fokus.
Beruf und Pflege: „Viele Betrieb trauen sich noch nicht ran“
„Gute Rahmenbedingungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege sind zu einem harten Standortfaktor geworden“, sagte Christa Beermann, Demografiebeauftragte des Ennepe-Ruhr-Kreises, die das dortige Projekt „arbeiten – pflegen – leben“ vorstellte. „Betriebe kennen jedoch vielfach die Möglichkeiten noch nicht, die sie in diesem Bereich haben und befürchten, dass die Maßnahmen aufwändig und teuer sind. Daher trauen sie sich vielfach nicht ran.“ Dabei lassen sich wirkungsvolle Unterstützungsmaßnahmen auch bereits mit geringem Budget realisieren. Viele Angebote im Bereich der Arbeitszeit- und Arbeitsorganisationsflexibilisierung, die Unternehmen mit Blick auf Eltern geschaffen haben, lassen sich zum Beispiel auf die Zielgruppe der pflegenden Angehörigen übertragen. Auch die Weitergabe von Informationen zum Thema Pflege, die Durchführung von Infoveranstaltungen oder die Organisationen von Pflegenden-Netzwerken sind Maßnahmen mit denen Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber betroffene Beschäftigte unterstützen können. „Wichtig ist, dass es eine Ansprechperson zu diesem Thema im Unternehmen gibt und dies bekannt ist“, erklärte Christa Beermann. „Wir erleben außerdem, dass Betriebsvereinbarungen zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege häufig ein wichtiges Signal setzen.“
Vertrauen aufzubauen braucht Zeit
Sowohl Christa Beermann als auch Medlin Mogar, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, die über ein Projekt zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege im Krankenhaus Witten berichtete, sagten, dass bei der Einführung entsprechender Maßnahmen ein langer Atem gefordert sei. Pflegende Beschäftigte müssen zunächst Vertrauen aufbauen, um sich im beruflichen Kontext zu dem Thema der Vereinbarkeit von Beruf und Pflege zu äußern. Vielfach befürchten sie Nachteile für ihre Karriereentwicklung, wenn diese private Belastung bekannt wird. Kongress-Teilnehmerin Sylvia Kern, Geschäftsführerin der Alzheimer Gesellschaft Baden-Württemberg, unterstrich, wie wichtig und entlastend es für betreuende und pflegende Angehörige ist, sich im Beruf mit diesem Thema nicht „verstecken“ zu müssen. Unternehmen tun daher bereits viel, wenn sie Betreuungs- und Pflegeverantwortung aus der Tabuzone holen und im Betrieb zum Thema machen.
Invest in Future 2015
Der nächste Zukunftskongress für Bildung und Betreuung, zu dem die Veranstalterinnen und Veranstalter alle Interessierten herzlich einladen, findet am 19. und 20. Oktober 2015 wieder im Haus der Wirtschaft in Stuttgart statt.
Link:
Invest in Future: www.invest-in-future.de
Das Konzept-e Netzwerk ist seit seiner Gründung 1988 kompetenter Partner für Kommunen und Unternehmen in Bildungs- und Sozialfragen. Der Aufbau und Betrieb öffentlicher und betriebsnaher Kindertagesstätten mit hohem Qualitäts- und Bildungsstandard sowie deren Organisationsentwicklung sind die wichtigsten Geschäftsfelder. Heute gehören zum Netzwerk knapp 40 Kitas, zwei Grundschulen, zwei Freie Duale Fachschulen für Erzieherinnen und Erzieher sowie die Entwicklung von Konzepten zur Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Der Anspruch einer qualitativ hochwertigen Bildung und Betreuung ist in der eigenen element-i-Pädagogik formuliert. Um diese Bildung und Betreuung allen Kindern zu ermöglichen, wurde 2011 die element-i-Bildungsstiftung ins Leben gerufen.
Das Konzept-e Netzwerk beschäftigt bundesweit 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Zu ihm gehören die Trägervereine Kind e.V. Stuttgart, Kind und Beruf e.V., Konzept-e für Kindertagesstätten gGmbH und die Konzept-e für Schulen gGmbH.
Das Konzept-e Netzwerk veranstaltet jährlich den Kongress Invest in Future, der die Vereinbarkeit von Beruf und Familie sowie die zeitgemäße Betreuung, Erziehung und Bildung von Kindern von 0 bis 10 Jahren in den Fokus nimmt. Er findet das nächste Mal am 27. und 28. Oktober 2014 in Stuttgart statt.
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