Wie werden Menschen weise? Neues Buch „Im Wandel der Zeit“ gibt Antworten und Denkanstöße

Wladimir Putin und Mahatma Gandhi

Neue Bücher von Dr. Thies Claussen

Wer an den mörderischen Diktator Wladimir Putin denkt, der völlig sinnlose Kriegsverbrechen in der Ukraine anordnet, denkt mit Sicherheit nicht an einen weisen Menschen, sondern an einen skrupellosen Alleinherrscher, der jegliche Kontrolle und Realität verloren hat. Viele denken bei weisen Menschen an Mahatma Gandhi, Dalai Lama, Mutter Teresa, Nelson Mandela oder vielleicht an Pabst Franziskus. Es ist einfacher, an einen weisen Menschen zu denken, als Weisheit selbst zu beschreiben. Aber was macht deren Weisheit aus? Und was bedeutet Weisheit eigentlich genau?

Die Philosophie, die „Freundin der Weisheit“ (philo-sophia) und die Religion beschäftigen sich schon seit Jahrtausenden mit der Frage „Was ist Weisheit?“. Sokrates galt als weiser Mensch. Sokrates wusste viel, aber er kannte seine Grenzen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“. Sokrates stellte Bürgern, die er auf den Straßen und Plätzen Athens traf, Fragen. Doch er war mit keiner Antwort zufrieden, sondern fragte immer weiter. Das ist der Anfang seiner Philosophie und darin besteht jede echte Philosophie. Sokrates Prinzip, Fragen zu stellen und scheinbare Gewissheiten infrage zu stellen, ist auch heute noch ein Grundprinzip unserer Wissenschaft.

Augustinus stellte in seinen Ausführungen „Über das Glück“ (De beata vita) fest: „Denn Weisheit ist letztlich nichts anderes als das Maß unseres Geistes, wodurch dieser im Gleichgewicht gehalten wird, damit er weder ins Übermaß ausschweife noch in die Unzulänglichkeit falle.“

In Märchen und Mythen sind es alte Männer und alte Frauen (Frau Holle), deren Worte, Taten und Entscheidungen als weise gerühmt werden. Die alten Weisen schlichten Streitigkeiten, sie durch-schauen Leidenschaften und Triebe ihrer Mitmenschen und kennen Lösungen für Probleme. Aber Märchen sind keine Realität: Nicht jeder Weise ist alt, nicht jeder Alte ist weise. Weisheit bildet sich zwar erst aus Erfahrung, durch Beobachtung und erworbenes Wissen heran. Das Klischee vom Alter als Hort der Weisheit hat insofern einen wahren Kern, weil Alte mehr Zeit hatten, ihre Lehren aus dieser Welt zu ziehen. Aber ein Automatismus ist das keinesfalls.

Nach Philosophie und Religion beschäftigt sich auch die Psychologie seit vielen Jahrzehnten mit der Frage wie Weisheit zu definieren und zu messen ist. Jüngst haben sich Forscher um den Psychiater und Neurowissenschaftler Dilip V. Jeste von der University of California, San Diego School of Medicine, mit diesen Fragen beschäftigt und einen Katalog von sieben Eigenschaften vorgelegt, der weise Menschen auszeichnet .

Weise Menschen zeichnen sich danach durch Selbstreflexion, pro-soziales Verhalten und emotionale Stabilität, durch Akzeptanz unterschiedlicher Perspektiven, Entscheidungsfreude, Hilfsbereitschaft und – in einem geringeren Maße – Spiritualität aus. Ein weiser Mensch scheint demnach mit Bescheidenheit, Ruhe, Nachsicht für Andersdenkende und eine Art Fürsorgebereitschaft für Mitmenschen ausgestattet zu sein. Ein weiser Mensch scheint mit hoher Wahrscheinlichkeit auch ein zufriedener Mensch zu sein, einer, der in sich ruht und mit sich im Reinen ist.

Der weise Mensch handelt und entscheidet vor allem zum Wohle vieler oder zum Gemeinwohl. Er ist sich, dank seiner Selbstreflexion, der eigenen Leidenschaften und Schwächen bewusst. Erst dann kann der weise Mensch verschiedene Perspektiven verstehen und empathisch, mitfühlend, fair und altruistisch handeln. Alles Eigenschaften, die auf Wladimir Putin keineswegs zutreffen.

Aber warum wollen die amerikanischen Forscher Weisheit eigentlich messen? Reicht es nicht einfach, sich an ihr zu erfreuen? Dazu Dilip V. Jeste von der San Diego School of Medicine : „Wir brauchen Weisheit, um im Leben zu überleben und zu gedeihen. Weisheitsmaße werden zunehmend verwendet, um Faktoren zu untersuchen, die die geistige Gesundheit und ein optimales Altern fördern. Es hat sich gezeigt, dass sie mit einer Vielzahl positiver Ergebnisse wie Glück, geistiger und körperlicher Gesundheit und selbst eingeschätztem erfolgreichen Altern verbunden sind.“

Judith Glück forscht an der Universität Klagenfurt als Professorin für Psychologie zum Thema Psychologie der Weisheit. Sie hat fünf Eigenschaften bzw. Prinzipen definiert, über die weise Menschen verfügen : Offenheit für neue Perspektiven, ein kluger Umgang mit den eigenen Gefühlen, Einfühlungsvermögen, Reflektiertheit und Selbstvertrauen. Folgen wir abschließend Judith Glück mit Ihren 5 Prinzipien eines gelingenden Lebens, aus denen sich in der Auseinandersetzung mit den eigenen Lebenserfahrungen Weisheit entwickeln kann.

Prinzip 1: Offenheit
Die Bereitschaft, sich auf neue Erfahrungen, an-dere Denkweisen, Veränderungen einzulassen

Weisheit kann sich nur dann entwickeln, wenn Menschen auch bereit sind, sich verändern zu lassen. Wenn sie also neuen Erfahrungen nicht mit einer vorgefassten Sichtweise begegnen, die sie nach Möglichkeit beibehalten wollen, sondern willens sind, sich überraschen oder beeindrucken zu lassen. Weise Menschen haben sich also bis zu einem gewissen Grad die kindliche Fähigkeit des Staunens, des Wahrnehmens ohne sofortiges Einordnen erhalten.

Offenheit für andere Menschen kann man jederzeit im Alltag trainieren. Besonders spannend und lehrreich ist es, wenn man bei Personen beginnt, die einem eigentlich eher fernstehen. Als Lehrerin könnte man sich einen Schüler auswählen, den man besonders schwierig findet, als Krankenpfleger eine anstrengende Patientin, als Angestellte die unzugängliche Kollegin oder den distanzierten Chef. Versuchen Sie ganz gezielt, Interesse an diesem Menschen zu zeigen, und fragen Sie ihn nach seinem Leben und den Beweggründen seines Verhaltens. Vielleicht entsteht schon allein durch diese Interessensbekundung eine ganz neue Art des Kontakts.

Vielleicht verstehen Sie auch nur besser, warum dieser Mensch sich so verhält, wie er es tut, ohne ihn deswegen besonders zu mögen. Vielleicht passiert auch gar nichts oder Sie werden in Ihrem Eindruck bestätigt. Auf jeden Fall aber haben Sie die Möglichkeit zugelassen, dass Ihre fixe Vorstellung von einem bestimmten Menschen etwas aufgelockert und differenziert wird.

Prinzip 2: Der gute Umgang mit Gefühlen
Wie sensibel ist man für die Komplexität der eigenen Gefühle, und wie gut kann man je nach Situation mit ihnen umgehen?

Warum gelingt es uns nicht immer, so zu handeln, wie wir eigentlich gerne handeln würden? Man weiß, dass es besser wäre, sowohl für die Situation als auch für das eigene Wohlbefinden, wenn man sich nicht über die unhöfliche Kellnerin ärgern oder dem Teenager freundlich sagen würde, dass das schmutzige Geschirr in die Spülmaschine gehört.

Die Intensität unserer Gefühle hindert uns daran, ruhig zu überlegen und klar zu denken, und vor allem auch daran, uns bewusst zu bleiben, wie unwichtig eine Situation eigentlich ist. Weise Menschen können das besser als viele andere, aber auch hier gibt es ein wichtiges Aber: Weise Menschen ignorieren oder verdrängen ihre Gefühle nicht. Sie nehmen sie wahr, messen ihnen Bedeutung bei und wissen eben deshalb mit ihnen auch so umzugehen, wie es eine Situation erfordert.

Prinzip 3: Einfühlungsvermögen

Wir alle haben von Natur aus eine gewisse Neigung, unser Mitgefühl abzuschalten, wenn es um Menschen geht, die wir als anders und als einer fremden Gruppe zugehörig empfinden. Dieses instinktive Verhalten hat seine Wurzeln vermutlich in unserer evolutionären Vergangenheit. Es mag ihnen einen Überlebensvorteil gesichert haben, wenn Frühmenschen ihre eigene Gruppe bevorzugten und andere ablehnten und bekämpften, insbesondere dann, wenn Ressourcen knapp waren. Auch heute noch wird die Ablehnung anderer Gruppen dann besonders sichtbar, wenn sie uns real oder vermeintlich etwas wegnehmen könnten.

Zu den vielen Illusionen, die weise Menschen überwunden haben, gehören also auch die Stereotypen, die Vorstellung, dass andere Menschen rein aufgrund der Tatsache, dass sie einer bestimmten Gruppe angehören, bestimmte Eigenschaften haben. Wer weiß, dass Menschen überall verschieden sind, wer überall Freunde gefunden hat, dem wird es schwerfallen, sein Mitgefühl gegenüber anderen abzuschalten. Die meisten von uns, die nicht so viel herumgekommen sind, können zumindest versuchen, darauf zu achten und sich besonders genau zu beobachten, wenn sie merken, dass sie mit jemandem so gar kein Mitgefühl verspüren.

Mitgefühl ist eine wichtige Ressource, die uns helfen kann, weiser zu werden. Dass weise Menschen anderen helfen, indem sie ihnen einen guten Rat geben, ist eine der häufigsten Assoziationen, die schon Kinder zum Begriff Weisheit haben. Weise Menschen sind in der Lage, zu erkennen, was jemand braucht, und ihm das auf eine Art zu vermitteln, die er auch annehmen kann.

Prinzip 4: Kritisches Reflektieren

Weise Menschen denken nach. Sie tun das gerne und mehr als andere Leute, und vor allem denken sie oft etwas weiter. Viele Menschen neigen dazu, einfachen Erklärungen komplizierter Sachverhalte Glauben zu schenken. Wenn ein Politiker verspricht, ein Problem, an dem bisher alle gescheitert sind, einfach durch gesunden Menschenverstand zu lösen, zieht das hoffnungsvolle Wählerinnen und Wähler an, weise Menschen hingegen macht es eher skeptisch. Sie wissen, dass die Hintergründe eines solchen Problems komplex sind, dass es viele Beteiligte mit unterschiedlichen Perspektiven und Bedürfnissen gibt, und dass bei einer allzu einfachen Lösung manche – oft die Schwächeren – auf der Strecke bleiben. Weise Menschen versuchen, Lösungen zu finden, die die unterschiedlichen Gesichtspunkte und Interessen ausbalancieren, so dass insgesamt der bestmögliche Kompromiss gefunden wird. Schon die Bereitschaft, mit allen zu sprechen und sich in ihre Sichtweise hineinzuversetzen, kann manchmal eine Konfliktsituation so weit beruhigen, dass die gemeinsame Suche nach einer Lösung möglich wird.

Prinzip 5: Die Überwindung der Kontrollillusionen
Die realistische Einschätzung der eigenen Möglichkeiten und Grenzen

Wir alle haben unsere Illusionen. Mehr als die Hälfte der Menschen glaubt, überdurchschnittlich intelligent zu sein, fast alle halten sich für gute Menschen und sind zufrieden mit ihrem Leben, und natürlich glauben wir im Allgemeinen, mit unseren Überzeugungen im Recht zu sein. Ein besonders interessanter Bereich sind die sogenannten Kontrollillusionen: Viele Menschen überschätzen den Einfluss, den sie selbst auf die Ereignisse in ihrem Leben haben. So glauben wir, dass uns beim Autofahren nichts passieren kann, weil wir ja erfahren, besonnen und vorsichtig sind. Dass es aber auch passieren kann, dass uns jemand im Vollrausch oder mit Selbstmordabsichten auf der falschen Straßenseite entgegengerast kommt, blenden wir aus, wenn wir uns hinter das Steuer setzen. Es würde uns ja auch nicht viel nutzen, ständig über solche Gefahren nachzudenken! Unserer Lebensfreude ist es wesentlich zuträglicher, wenn wir glauben, dass wir im Großen und Ganzen die Kontrolle über unser Leben haben.

Weise Menschen haben keine Kontrollillusionen oder zumindest weniger als die meisten von uns. Sie wissen aus eigener tiefster Erfahrung, wie viel im Leben passieren kann, ohne dass man es vorausgesehen hat, und dass man andere Menschen nur in den seltensten Fällen verändern kann. Aber dieses Wissen macht sie nicht ängstlich, hilflos oder depressiv, denn ihre Erfahrungen haben sie auch gelehrt, Vertrauen zu haben, das, was geschieht, anzunehmen und damit zu arbeiten. Sie wissen, dass sie die Kraft haben, zu bewältigen, was auch immer passiert.

Durch das Zusammenspiel dieser fünf Prinzipien entsteht eine bestimmte Haltung dem Leben gegenüber, die es ermöglicht, mit allem, was passiert, auf eine konstruktive Art umzugehen und in der Auseinandersetzung mit den eigenen Lebenserfahrungen Weisheit zu entwickeln. Aber schon Konfuzius wies darauf hin, dass der Weg über Erfahrung nicht einfach ist: „Der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln: erstens durch Nachdenken, das ist der edelste; zweitens durch Nachahmen, das ist der leichteste; drittens durch Erfahrung, das ist der bitterste…“

Claussen geht in seinem neuen Buch „Im Wandel der Zeit. Wo stehen wir? Wohin gehen wir?“ in acht Kapiteln auf Fragen ein wie „Was lernen wir aus der Corona-Pandemie?“ oder „Was bestimmt unsere Zukunft?“. Weitere Kapitel sind „Welche Lebensphasen durchlaufen wir?“, „Wie werden Menschen weise?“, Was bedeutet Wissenschaft für unser Leben?“ oder „Wie entwickelt sich die Kluft zwischen Arm und Reich?“. Auch stellt er die Fragen „Scheitert der Klimaschutz an unserer Bequemlichkeit?“ und im letzten Kapitel „Was macht uns glücklich?“.

Das neue Buch „Im Wandel der Zeit“ ist präzise, klar und gut verständlich geschrieben. Die einzelnen Kapitel sind jeweils wissenschaftlich untermauert und gründlich durchdacht. Das im Hamburger Tredition-Verlag im Februar 2022 erschienene 168-seitige Buch ist sehr empfehlenswert für alle, die eine Orientierung zu wichtigen Fragen unseres Lebens und unserer Gesellschaft suchen.

Von Dr. Thies Claussen sind die Bücher „Im Wandel der Zeit. Wo stehen wir? Wohin gehen wir?“ (2022), „Denkanstöße – Acht Fragen unserer Zeit“ (2021), „Unsere Zukunft nach Corona“ (2020), „Ludwig Erhard. Wegbereiter unseres Wohlstands“ (2019), „Zukunft beginnt heute“ (2018) und „Unsere Zukunft“ (2017) erschienen.
Der Autor war Ministerialdirigent im Bayerischen Wirtschaftsministerium und zuletzt Vizechef der LfA Förderbank Bayern.

Kontakt
Buchautor Dr. Thies Claussen
Thies Claussen
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